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Titel
L’Homme-bus. Une histoire des controverses psychiatriques (1960–1980)


Autor(en)
Ferreira, Cristina; Maugué, Ludovic; Maulini, Sandrine
Erschienen
Chêne-Bourg 2020: Editions Georg
Anzahl Seiten
305 S.
von
Mirjam Janett, Historisches Institut, Universität Bern

Martial Richoz ist stadtbekannt, als er 1986 gegen seinen Willen in die psychiatrische Anstalt Cery eingewiesen wird. Überzeugt davon, er sei «L’Homme-bus», schreitet der von Trolleybussen faszinierte junge Mann seit einigen Jahren als Schaffner gekleidet zügig mit massstabsgetreuen Busmodellen durch die Strassen von Lausanne. Die Menschen, denen er auf seinen Runden begegnet, bringen ihm grösstenteils Wohlwollen und Sympathie entgegen. Seine Zwangseinweisung löst denn auch in den Medien ein enormes Echo aus.

Das Autorenteam der Haute École de santé Vaud zeigt auf, wie im Anschluss an Richoz’ Internierung eine öffentliche Debatte über die Legitimation von Psychiatrie und fürsorgerischen Zwangsmassnahmen entbrannte. Es will mit der «Affaire de l’Hommebus » (S. 11) zu einer «histoire internationale de la psychiatrie suisse» (S. 7) beitragen.

Die beiden Autorinnen und der Autor gliedern das Buch in drei Teile: Der erste Teil fokussiert sich auf die Schweiz und die Rechtsgrundlagen zur Anstaltsinternierung. Bis zur Revision des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs 1978 ermöglichten die kantonalen administrativen Versorgungsgesetze, Menschen ohne Gerichtsurteil über Verwaltungsbehörden in Anstalten und Psychiatrien zu versorgen. Mit den Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Menschenrechtskommission (EMRK) seien solche Zwangsinstrumente, die auf Menschen angewandt wurden, die dem Staat zur Last fielen, weil sie zum Beispiel entweder nicht arbeiteten oder die öffentliche Ordnung störten, immer mehr in Frage gestellt worden. Die Revision des ZGBs mündete schliesslich in das Rechtsinstrument der Fürsorgerischen Freiheitsentziehung (FFE), welche die Zwangseinweisung erstmals national regelte, jedoch nicht unbestritten war.

Erst der zweite Teil befasst sich mit Martial Richoz. Im Januar 1986 wird dieser durch das Friedensrichteramt in Lausanne auf Antrag seiner Vormundin versorgt, einige Wochen später aber wieder entlassen, nachdem er gegen seine Einweisung Rekurs eingelegt hat. Auch nach seiner Entlassung setzt sich die Presseberichterstattung fort, die nun die Psychiatrie grundsätzlich kritisiert.

Zum Zeitpunkt seiner Internierung ist Martial Richoz nicht nur stadtbekannt, sondern eine öffentliche Figur. 1983 hat der Filmemacher Michel Etter einen Dokumentarfilm über ihn gedreht. Richoz äussert sich im Film reflektiert über seinen psychiatrischen «Werdegang» und kritisiert die Normalisierungsmacht der Psychiatrie. 1985 rezensiert die französische Tageszeitung Le Monde den Film positiv. In der Schweiz weckt er das Interesse von Michel Thévoz, dem Gründer der Collection de l’Art brut in Lausanne, der später die Internierung von Richoz anprangert.

Zunächst spekulierte die Presse über die nicht bekannten Einweisungsgründe. Vage bezog sich seine Vormundin auf ein angebliches gewalttätiges Verhalten und seine angeblich problematische Beziehung zu Kindern. Die einweisenden Instanzen schwiegen dazu und argumentierten mit dem Amtsgeheimnis. Die Medien prangerten diese Geheimhaltung an, die französische Wochenzeitung Événement de jeudi griff ursprünglich die von Thévoz aufgeworfene Analogie mit dem «Gulag» (S. 111) auf.

Die Medialisierung und Politisierung der Affäre verortet das Autorenteam im Kontext der Psychiatriekritik, womit sich der dritte Teil des Buches befasst. Dafür verlassen sie den «Fall» L’Homme-bus und gehen zu den Heroen der Antipsychiatrie über. Psychiater wie Franco Basaglia forderten in Italien die Abschaffung der Anstalten, Robert Laing in Grossbritannien entwarf neue Ansätze, die das Arzt-Patienten-Verhältnis zwischen Therapeut und Patientin revolutionierten. Auch in der Schweiz fasste die Psychiatriekritik zwischen 1960 und 1980 Fuss. Verbände institutionalisierten sich und forderten beispielsweise die Zustimmung des Patienten zur Einweisung und Therapie und betonten das individuelle Recht zur Krankheit.

Die Studie nimmt eine neue Perspektive ein, um die Antipsychiatrie der 1970erund 1980er-Jahre zu untersuchen. Die Historiografie fokussierte sich bisher entweder auf
bestimmte Länder, Personen oder soziale Bewegungen.1 Systematische Forschungen zur Schweiz gibt es nicht. Der Ansatz, die mediale Auseinandersetzung rund um die Internierung von Martial Richoz in diesem Spannungsfeld zu verorten und die institutionellen Umwälzungen nachzuzeichnen, die die Psychiatrie in diesen Jahren erfasste, ist interessant. Schade ist, dass er nicht konsequent durchgezogen wurde. Der Affäre um den «l’Homme-bus» wird erst im zweiten Teil (ab Seite 87) nachgegangen. Der erste Teil ist eigentlich ein überlanges Kontextkapitel, das minutiös aufzeigt, wie es zum FFE gekommen ist. Danach wird argumentiert, dass der Menschenrechtsdiskurs in den 1970er-Jahren zu einer Individualisierung geführt habe, die das Verhältnis zwischen Arzt und Patientin
verschoben habe. Und auch der dritte Teil führt wieder weg vom Fallbeispiel hin zur Psychiatriekritik, die lange vor der Internierung von Richoz eingesetzt hatte und unabhängig vom Fallbeispiel besprochen wird.

Die Studie zeigt zwar interessante Stränge auf. Es gelingt ihr jedoch nicht, diese im Fallbeispiel zusammenlaufen zu lassen. So wird zum Beispiel die konkrete Bedeutung der EMRK für die Psychiatriekritik im Allgemeinen und die Debatte rund um die Einweisung von Martial Richoz im Speziellen nicht ersichtlich. Zudem vermittelt die Studie den Eindruck, die institutionellen Umwälzungen der Psychiatrie seien in erster Linie auf die Psychiatriekritik zurückzuführen, und klammert weitere Erklärungsansätze, zum Beispiel die medikamentöse Wende, welche die Deinstitutionalisierung der Psychiatrie begünstigt hatte, weitgehend aus. Richoz, mit dessen «Fall» das Autorenteam die Psychiatriegeschichte erhellen will, kommt – obwohl sie gemäss Dank mit ihm gesprochen haben – nicht zu Wort. So wird er quasi aus dieser ausgeschlossen.

Anmerkung:
1 Exemplarisch: Oisín Wall, The British Anti-Psychiatrists: From Institutional Psychiatry to the Counter-Culture, 1960–1971, New York 2017 (Routledge Studies in Cultural History 54); John Foot, La «Repubblica dei matti». Franco Basaglia e la psichiatria radicale in Italia, 1961–1978, Milano 2014.

Zitierweise:
Janett, Mirjam: Rezension zu: Ferreira, Cristina; Maugué, Ludovic; Maulini, Sandrine: L’Homme-bus. Une histoire des controverses psychiatriques (1960–1980), Chêne-Bourg 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 330-332. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.

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